HT 2021: Mobilität und Konnektivität: Quellen, Methoden und hermeneutische Deutungskämpfe im Spannungsfeld von analoger Quellenkritik und digitaler Forschung

HT 2021: Mobilität und Konnektivität: Quellen, Methoden und hermeneutische Deutungskämpfe im Spannungsfeld von analoger Quellenkritik und digitaler Forschung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Jana Keck, Deutsches Historisches Institut Washington

Transatlantische Briefwechsel und andere mobilitätsbezogene (Massen-)Quellen geben Aufschluss darüber, wie im Kontext von Migration und Mobilität geographische und soziale Konnektivitätsräume durch kulturelle Praktiken des Übersetzens entstanden oder zerfallen sind. In der hier zu besprechenden Sektion wurden die Chancen und Grenzen durch die Digitalisierung transatlantischer Korrespondenzen und komplementärer Analysemethoden sichtbar gemacht indem digitale Praktiken des Sehens, Suchens, und Interpretierens für die historische Migrationsforschung eingesetzt und übersetzt wurden. In insgesamt fünf Vorträgen sowie einer kurzen Einführung präsentierten Historiker:innen theoretische und praxisorientierte Werkstattberichte laufender Projekte, in denen digitale Korpora und algorithmische Analyseverfahren innovativ genutzt und reflektiert wurden. Wie das Panel zu Praxisbeispielen aus der Digitalen Geschichtswissenschaft zeigte, können Deutungskämpfe im Spannungsfeld von analoger Quellenkritik und digitaler Forschung aufgelöst werden, indem quantitative und qualitative Ansätze im Sinne einer „erweiterten (‚blended‘) historischen Hermeneutik“, um es in den Worten von Sektionsleiterin URSULA LEHMKUHL (Trier) zu sagen, methodenkritisch kombiniert und nicht separiert betrachtet werden.

Die Sektion war auf einen Dialog von analoger und digitaler Forschung ausgerichtet, um vor allem das Interesse auch bei solchen Historiker:innen zu wecken, die die „digitale Wende“ in den Geisteswissenschaften skeptisch sehen. In ihren Begrüßungen erläuterten Lehmkuhl und SIMONE LÄSSIG (Washington), dass die Sektion eine Einladung sei, um über die Möglichkeiten und Fallstricke der Digitalen Geschichtswissenschaften zu diskutieren. Daher wurden Berührungspunkte des Digitalen mit den Geschichtswissenschaften veranschaulicht, indem die Interaktion von mobilen und immobilen Forschungsakteur:innen im Sinne einer Geschichte von unten in den Vordergrund gerückt wurde, zu der es bisher kaum empirisch fundierte Studien gibt. Gerade mit Blick auf mobilitätsbezogene Massenquellen, sei es kaum möglich, so Lehmkuhl, ohne den Einsatz digitaler Quellenkorpora und Werkzeuge einen transatlantischen Blick zu gewährleisten. Wenn Historiker:innen auf analytischer Ebene das alltägliche Erleben der Migrant:innen der Vergangenheit historisch forschend herausarbeiten, sei es wichtig, die Techniken des Digitalen stets zu reflektieren und auch offen über Misserfolge zu sprechen.

ANDREAS FICKERS (Luxemburg) leitete die Sektion mit einem theoretischen Beitrag ein und wies darauf hin, dass die Wissenschaftlichkeit in der historischen Praxis auf den Prüfstand gestellt werden müsse. Mit seinem Eingangsstatement „hybridity is the new normal“ machte Fickers darauf aufmerksam, dass auch wenn alle Historiker:innen digitale Werkzeuge benutzen, ihre Denkweisen dennoch sehr von der analogen Arbeitsweise geprägt seien. Daher bleibe vieles bisher unsichtbar und damit auch unreflektiert. Fickers plädierte daher für eine Erweiterung der Hermeneutik in eine Digitale Hermeneutik, welche er konzeptualisiert als eine „Hermeneutik des Dazwischenseins“: zwischen Theorie und Praxis, Erklärung und Verstehen, analogen und digitalen Methoden. Fickers zeigte beispielhaft an Visualisierungen zur Netzwerkanalyse wie sich im Digitalen neue Spielräume des Interpretierens eröffnen. Dies fordere aber gleichzeitig, dass man sich multimediale Kompetenzen in historischer Daten- und Werkzeugkritik, wie zum Beispiel ein Verständnis für die Datenvisualisierung zwischen Back- und Front-End, aneignen müsse. Fickers sah großes Potenzial in „Scalable Reading“, einer Verbindung zwischen qualitativer und quantitativer Forschung. Scalable Reading stelle einen methodischen Ansatz dar, welcher eine Reise zwischen physischem und digitalem Archiv, historischer Karte und Datenbank ermöglicht, um Beziehungen und Muster zu erkennen, die man sonst nicht gesehen hätte. In diesem Spielraum habe man das große Potenzial, andere Fragen zu stellen und nur in diesem Wechsel sei es Historiker:innen möglich, vom „wer, wo, wann“ zu „wieso, weshalb, warum“ zu gelangen. Um die Quellenkritik auf das „Neue“ anzuwenden und somit Best Practices bzw. Fallstricke aufzuzeigen, benötige es mehr Transparenz und Nachvollziehbarkeit in einer neuen Evidenzkultur „by making the implicit explicit“. Fickers resümierte, das Ziel einer Digitalen Hermeneutik sei es, Lücken sowie die Überführung von unstrukturierten Informationen in strukturierte Daten sichtbar zu machen, indem „Manipulation“, d.h. das Eingreifen in was wir als Quelle/Daten bezeichnen, erklärt wird. Da diese iterativen Prozesse reflektiert dargestellt werden müssen, benötige die Geschichtswissenschaft, so Fickers, auch neue Formen der Dokumentation sowie neue Arten und Weisen Geschichten zu erzählen.

Wie dieses Update für die Hermeneutik durch forschungsgeleitete Exploration von digitalen Methoden konkret aussehen kann, zeigten die anschließenden Projektbeiträge zu „Mobilität und Konnektivität vom 17. bis zum 20. Jahrhundert.“ ROSALIND BEILER (Orlando) zeigte am Beispiel des Projektes PRINT (People, Religion, Information Networks & Religion), das Korrespondenznetzwerke europäischer Wiedertäufer, Quäker und Pietisten im 17. Jahrhunderts untersucht, wie digitale Methoden Aufschluss über Archivlücken geben können. PRINT war ursprünglich nicht als DH-Projekt konzipiert. Doch schnell stellte sich heraus, dass die analoge Forschung nicht weiterkommen würde, um zentrale Projektfragen zu beantworten. Zu diesen gehörte unter anderem die Frage, welche Netzwerke globale Migrationsflüsse und Mobilitätsmuster im 17. Jahrhundert beeinflussten und wie sich darüber spezifische religiöse, politische und wirtschaftliche Konnektivitätsräume etabliert haben. Mit dem Einsatz der Digitalisierung dieser Korrespondenzdokumente sowie der Datenvisualisierung und Netzwerkanalyse (Gephi) konnten die Herausforderungen, die mit der Analyse weit reichender instabiler Informationsnetzwerke multilingualer Quellen einhergehen, adressiert werden. Beiler argumentierte, dass digitale Visualisierungstools es ihr und anderen Benutzer:innen ermöglichen, verschiedene strukturierte und unstrukturierte Informationen miteinander zu kombinieren, die sie auf einer zweidimensionalen Seite nicht anzeigen könne. Darüber hinaus plädierte sie dafür verstärkt den Kontakt zu Archivar:innen zu suchen, denn durch die Analyse konnten nicht nur Verbindungen zwischen Akteur:innen identifiziert werden, sondern Lücken in den Archivbeständen sichtbar gemacht werden. Beiler resümierte, dass sie großes Potenzial in der Digitalisierung des transatlantischen Briefwechsels sehe mit besonderem Blick auf eher unbeachtete Gruppen in der Geschichtsforschung: „ohne diese Quellen können wir keine Geschichte einfacher Menschen, insbesondere von Frauen schreiben.“ Ziel müsse es deshalb sein, intensiver in den Austausch zu treten, um archivische Überlieferungsbildung als Voraussetzung von historischem Arbeiten besser zu verstehen. Dieser Vortrag verdeutlichte, dass Fragen zu geschichtswissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten sowie Bewertungen der Authentizität der Quellen im Dialog zwischen den Archiven und der Geschichtswissenschaft am überzeugendsten beantwortet werden können.

KATHERINE FAULL (Lewisburg) stellte in ihrem Vortrag die Vorteile kollektiver und interdisziplinärer Praktiken einer digitalen Hermeneutik vor. Wie die Anwendung dieser Schritte in der Praxis aussehen kann, zeigte sie am Beispiel des Projektes „Moravian Lives“ und der Entwicklung einer digitalen Plattform, die den Zugriff und die Analyse der Archivhandschriften (auto-)biografischer Schriften der Moravian Church vom 18. bis zum 20. Jahrhundert ermöglicht. Faull veranschaulichte wie durch Datenvisualisierung Verbindungen von Akteur:innen in Bezug auf Ethnizität und Familie untersucht werden können, um historische Konzepte wie Geschlecht, Rasse und Sexualität zu kombinieren und somit zu (re-)evaluieren. Dabei konzentrierte sich der Beitrag auf noch nicht analysierte Netzwerke von Frauen und amerikanischen Ureinwohner:innen im Kontext der transatlantischen Migration im langen 18. Jahrhundert. Im Gegensatz zur verbreiteten Wahrnehmung pietistischer Frauen, die ein isoliertes Leben mit wenig Kontakt zu Männern und/oder Nicht-Angehörigen der Moravian Church führten, zeigte ihre Netzwerkforschung, wie reich und verbunden ihre Leben waren. Allerdings plädierte auch Faull für ein „Scalable Reading", denn durch Metadaten allein könne man nicht die komplexen Geschichten dieser Frauen rekonstruieren. Basierend auf den Erfahrungen innerhalb des Projektes betonte Faull, dass sich besonders das kollektive und interdisziplinäre Arbeiten mit Studierenden allgemein und Kolleg:innen aus der Informatik als erfolgreich erwies, denn sie zwingen Historiker:innen die Wissenschaftlichkeit der historischen Praxis ständig zu überdenken.

Auf der Grundlage der Deutschen Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS) präsentierte URSULA LEHMKUHL kommunikative Übersetzungspraktiken in Briefen deutscher USA-Auswanderer. Lehmkuhl machte auf der Grundlage eines „close readings“ ausgewählter Briefe deutlich, welche Fragen sie mit dieser Forschungsmethodik bisher beantworten konnte: deutsche Auswanderer im 19. Jahrhundert nutzen typische Übersetzungsmuster, indem Unübersetzbarkeiten durch vergleichende Beschreibung deutscher Referenzobjekte, die zugleich immer als eigentlich nicht vergleichbar apostrophiert wurden, überbrückt wurden. Während in der Forschung zur deutschen Amerikaauswanderung die Wahrnehmung Amerikas als Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der Freiheit und Gleichheit als Pull-Faktor herausgestellt wird, bleibt die „Kehrseite“ der Medaille, so Lehmkuhl, das von den zitierten Ausgewanderten zurückgewiesene Bild vom wilden, unzivilisierten Amerika unterbelichtet. Ein zentraler Grund dafür sei das Fehlen von geeigneten Quellenkorpora, d.h. Gegenstücke zu den „America Letters“, und der Umstand, dass es mit analogen Methoden nur ansatzweise möglich ist, Strukturen und Muster der „longue durée“ zu erfassen. Die vorgetragenen Beispiele zeigten, dass eine aus der analogen Auswertung von Quellen gewonnene Beobachtung die Grundlage bilden kann, um Fragestellungen weiterzuentwickeln, die in einem darauf aufbauenden Schritt mit digitalen Methoden bearbeitet werden können. Zur Untersuchung dieser relationalen Wissenswelten sei es notwendig, eine möglichst große Anzahl von Gegenstücken – Briefe aus dem deutschsprachigen Raum Europas – zu sammeln und diese mit Hilfe digitaler Methoden auf die Inhalte und Strategien kultureller Übersetzungspraktiken hin zu untersuchen. Das Zusammenspiel von analoger und digitaler Hermeneutik, betonte Lehmkuhl, sei für die zukünftige Arbeit der Historiker:innen gerade besonders für die Migrations- und Mobilitätsgeschichte wegweisend.

Auf diese gefragte Sammlung sogenannter „Homeland Letters“ ging SIMONE LÄSSIG in ihrem Vortrag ein. Auch wenn nur ein Bruchteil der mehr als 400 Millionen Briefe, die zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland verschickt wurden, die Zeitläufte überstanden hat, so Lässig, formt dieser Bruchteil ein qualitativ wie quantitativ bemerkenswertes Quellenkonvolut. Lässig zeigte das Potenzial dieser Sammlung, die am DHI Washington erschlossen wird, um eine relational verstandene, untere und mittlere soziale Schichten einschließende Wissensgeschichte der Migration zu schreiben. Am Beispiel ausgewählter Briefe verdeutlichte Lässig, wie auch die scheinbar Immobilen „(Übersee- )Migration“ verhandelt haben und, dass nicht selten Frauen und Kinder Übersetzer von Kultur und Wissen waren – ein weiterer Aspekt, dem die Forschung bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat, der in dem von Lässig präsentierten DHI-Institutsprojekt „Migrant Connections“ aber eine zentrale Rolle spielt. Entwickelt werde eine digitale Forschungsinfrastruktur, in der die Briefe mit Citizen Scholars und Deep Learning Verfahren transkribiert und übersetzt, mit Metadaten angereichert und mit anderen Quellen wie Zeitungstexten, Tagebüchern oder Gedichten zusammengeführt werden, um eine Geschichte von unten transatlantisch und transmedial zu schreiben. Kämpfen, so Lässig, müssen Historiker:innen bestenfalls um Finanzierung, nicht aber um Deutungen. Denn analoge und digitale Methoden und Erkenntnisweisen funktionierten in diesem Falle nur integrativ und die spannendste Frage sei, resümierte Lässig, wie wir sie methodisch überzeugend zusammenführen und eine erweiterte Hermeneutik, wie Fickers sie eingangs entworfen hat, in die Praxis historischen Arbeitens einführen können.

Die anschließende Diskussion mit dem Plenum zeigte, dass die vorgestellten Ansätze sehr vielversprechend für die Migrations- und Mobilitätsforschung sind. Anschließende Fragen adressierten mehr die allgemeine Skepsis gegenüber der Digitalen Wende in den Geschichtswissenschaften, indem auf Vergleiche von analoger und digitaler Forschung in Bezug auf Finanzierung und quantitativen Ansätzen in den 1980er-Jahren eingegangen wurde. Im Hinblick auf Verbindungen der Digitalen Hermeneutik zu früheren Praktiken betonte Lehmkuhl: "Digitalisierung bedeutet nicht, dass wir in die Quantifizierung zurückgehen." Dies bekräftigte auch Fickers, der zudem dafür plädierte, dass quantitatives und qualitatives Arbeiten nicht als entweder oder, sondern vielmehr als spielerischer Umgang miteinander angesehen werden müsse, der Forschende einlädt – und nicht ausschließt – multiperspektivisch auf die Vergangenheit zu schauen. Und auch auf die Gegenwart sollten wir multiperspektivisch schauen, so Faull, und sie als Chance begreifen, um uns, zum einen, weitere Qualifikationen anzueignen – egal in welchem Alter – und, zum anderen, Synergien mit anderen Disziplinen zu suchen und zu lernen, wie diese mit Fragen zur Ethik, Gender oder Diversity in ihrer Forschungspraxis umgehen. Die Disziplin kann nur in der Breite gewinnen, resümierte Faull, wenn Digitale Geschichtswissenschaft nicht länger antagonistisch betrachtet, sondern komplementär in traditionelle Praktiken eingebettet wird.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Simone Lässig (Washington), Ursula Lehmkuhl (Trier)

Andreas Fickers (Luxemburg): Einführung. Digitale Hermeneutik – Chancen und Herausforderungen des „digital turn“ für die Geschichtswissenschaft

Rosalind Beiler (Orlando, FL): „Sehr wehrte Freunde und Brüders in Christo“: Der Einfluss religiöser Korrespondenznetzwerke auf globale Migrationsflüsse und Mobilitätsmuster im 17. Jahrhundert

Katherine Faull (Lewisburg, PA): "Wenn du in das land kommst, so denke nicht an gros Reichthum zu gewinnen… ": Constructing a transatlantic digital hermeneutics through 18th Century Moravian Memoirs

Ursula Lehmkuhl (Trier): Sprechen über die Wunder der Neuen Welt: Kulturelle Übersetzungspraktiken als kommunikative Konnektivitätsinstrumente in den Briefen deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert

Simone Lässig (Washington, D.C.): Transatlantische Mobilität und Wissensproduktion im 19. Jahrhundert: Perspektiven der „Daheimgebliebenen“


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